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Sabine Gründken
Der Flussschwimmer
Ich umarmte seine Ehefrau, nachdem sie von ihrem Mann Abschied genommen hatte. „Soll ich Ihnen noch ein Taxi bestellen?“, fragte ich. „Nein, nein!“, antwortete sie leise. „Es wird schon hell!“ Sie zeigte auf die Reisetasche neben der Tür. „Die Tasche ist nicht schwer und etwas frische Luft wird mir gut tun. Nochmal Danke für alles.“ Sie überreichte mir ein Buch. Eingebunden in einem blauen Umschlag, darauf in hellblau ein Fluss gemalt, der sich durch eine Landschaft schlängelte. Das Buch hatte seit Wochen an seinem Bett gelegen. Ich hatte ihm manchmal daraus vorgelesen, wenn er nicht schlafen konnte. Ein Buch, das unter hundert anderen Büchern, keine Bedeutung für mich hatte. „Mein Mann wollte, dass Sie es bekommen.“ Ein Lächeln zog sich über ihr trauriges Gesicht. Ich blickte ihr nach, wie sie mit langsamen Schritten den langen Flur verließ.

Ein Buch! Eine Tafel Schokolade wäre mir lieber gewesen. Die Nacht war lang und anstrengend. Ich hatte weder eine Pause machen können noch etwas gegessen.

Leise öffnete ich die Zimmertür. Der Wind spielte mit der Gardine am offenen Fenster. Vogelgezwitscher aus dem Park. Im Hof Laute des Martinhorns. Über seinem Bett brannte noch ein kleines Licht. Sein blasses Gesicht hatte die Farbe des Kopfkissens, auf dem noch ein Blutfleck war. Der Arzt hatte ihm die Augen geschlossen. Der Mund war durch die angelegte Wickel fest verschossen. Zuvor hatte ich ihm die Hände zusammen über die Bettdecke gelegt. Von den vielen Infusionen hatten sich Blutergüsse auf seinen Oberarmen gebildet. Ich trat an sein Bett, berührte die

nackten steifen Hände. Er war schon fort, doch der Raum noch voll mit seinem Leben.

Müde setzte ich mich auf den Stuhl, auf dem vor wenigen Minuten noch seine Frau gesessen hatte. Der Stuhl war noch warm. Ich nahm das Buch und blätterte es durch. Die Geschichte vom Flussschwimmer, auf dem Weg zum weiten Meer. Ich erinnerte mich, wie ich aus dem Buch vorgelesen hatte, wie das Schellen der Mitpatienten mich ständig unterbrach. Ich schaute in sein Gesicht. Keine Züge von Schmerz, keine Züge von Angst, keine Züge von Einsamkeit. Der dichte braun-graue Schnauzbart kennzeichnete seine Person. Wie oft wollten wir ihn stutzen. Doch er lehnte es ab, wenigsten etwas von ihm sollte noch wachsen.

Ich rieb mir die Augen. Müde flog mein Blick über die Sätze. Dabei hörte ich seine Stimme, wie sie damals zu mir sprach: „Trau dich! Mach es! Gehe den neuen Weg, freue dich aufs tiefe, weite Meer!“ Tief versunken, gefesselt von den Zeilen las ich weiter. Plötzlich fand ich mich in der Geschichte wieder. Nur dieses einzige Mal sollte mich weder das Telefon noch das Schellen stören.

Viele Wochen hatte er auf meiner Station gelegen. Viele Nächte hatte ich ihn betreut. Er war nicht mehr ein Patient unter hundert anderen Patienten. Während das Tageslicht den Raum erfüllte, spürte ich, wie das Leben den Raum verließ. Ich atmete tief durch, löschte das Licht und nahm meine Erinnerung an diesen Patienten, mit dem Buch mit.