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öööö
Omega. Alpha.

Dagmar Kolb
Omega. Alpha.
Langsam strich sie mit den Fingerspitzen über das dunkle Holz. Spürte wie sich feine Staubpartikel andie Haut hefteten. Eine glänzende Spur folgte ihrer Bewegung. Wie still es war. Nur ihre eigenen Atemzüge unterbrachen die Lautlosigkeit. Ihr Blick streifte ihre Hand auf dem Sideboard, wanderte über Fernseher, Schrank, Tisch und Couchgarnitur. Schweigend starrten die Möbel zurück.

Alles war anders. Keiner fragte mehr: „Willst Du was essen, Kind? Ich mach erst mal einen Kaffee!”. Sie sah die Mutter noch vor sich, wie sie nach der ersten freudestrahlenden Begrüßung in die Küche eilte. Jetzt musste sie sich den Kaffee selbst aufbrühen. Sie hatte nicht geweint. Nur funktioniert. Bestatter, Bank, Versicherungen, die schier endlosen Formalitäten ließen keine Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war das gut so.

Die Hand ruhte immer noch auf dem Sideboard. Sie musste eine Entscheidung treffen, denn hier konnte sie definitiv nichts mehr unterbringen. Abgesehen davon waren die dunklen Eichenmöbel nicht ihr Stil. „Alles auf den Sperrmüll?”, fragte sie sich. Nein, das verbot sich von selbst. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag vor mehr als zwanzig Jahren, nein, es waren fast schon dreißig, als die neue Wohnzimmereinrichtung geliefert worden war. Stundenlang hatten die Möbelpacker geschwitzt, die Einzelteile ins Haus getragenund aufgebaut. Fremd war ihr das neue Ambiente vorgekommen, es hatte Wochen gedauert bis sich das beklemmende Gefühl legte, das sie jedesmal beschlich, wenn sie den Raum betrat.

Heute konnte sie sich kaum vorstellen, das es einmal anders ausgesehen hatte. Weihnachten, Geburtstage, die Bilder all der Gelegenheiten, wenn die Familie zusammen traf, liefen wie ein endloser Film vor ihrem inneren Auge ab. “Schluss jetzt,” ermahnte sie sich. Es tat weh, sich zu erinnern. Unweigerlich wurde ihr klar, dass diese Zeit zu Ende war.

Unentschlossen musterte sie den Raum. Hier war sie aufgewachsen. Mehr als 50 Jahre hatten ihre Eltern hier gelebt. Durfte sie wirklich die Zeugnisse dessen entfernen? Die Dinge, die ihren Eltern etwas bedeutet hatten, weg

geben? Was war ihnen eigentlich wichtig gewesen? War irgend etwas ihnen wichtig gewesen? Wusste sie das überhaupt? Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Unsichtbare Grenzen, die schon in frühester Kindheit gegolten hatten, wurden ihr bewusst. Sie zögerte. Alles was sie sah, roch und fühlte, band sie. Reglos, hilflos und ohnmächtig stand sie da. Schwer wog die Last auf ihren Schultern, wuchsen schreiende Furien hervor. Es zerriss sie. Verstand und Gefühl standen sich unversöhnlich gegenüber. „Ist doch klar, was Du tun musst. Worauf wartest Du?” „Nein, nein, nein. Das ist nicht Deins. Wer hat Dir erlaubt überall rumzuwühlen? In den persönlichen Papieren, Tagebüchern...” „Was soll das? Begrab die Toten. Die brauchen nichts mehr!” „Das war ein Teil Ihres Lebens. Ist das nichts mehr wert? Hast Du keinen Anstand?” „Darum geht´s doch gar nicht!„ „Wer würdigt sie dann noch? Ex und hopp, oder was?” „Quatsch, die Erinnerung braucht keine Möbel!”

„AUFHÖREN!” Stille. Fast schien es ihr, als ob ihre Eltern direkt neben ihr standen. Gelassen beobachtend. Ganz ruhig und abwartend. „Was mit dem Haus passiert, ist mir egal,” hörte sie die Mutter sagen. „Du musst selbst entscheiden, was für Dich am Besten ist.” „Du machst das schon,” brummelte der Vater. „Hast ja immer Deinen Dickschädel durchgesetzt.” Dies war ihr Erbe. Ihre Verantwortung. Verantwortung? Sie streckte sich und blickte mutig nach vorn. Nein, Freiheit! Heute war die Chance für einen Neubeginn. Ein Anfang, der ihre Handschrift trug. Sie fühlte wie sich ihre Erstarrung löste, ihre Kraft wieder erwachte. Das Leben ging weiter.

Einige Erinnerungstücke würden bleiben. Dazu ihre eigenen Sachen. In Gedanken machte sie sich schon Notizen, was sie bewahren und verändern wollte. Ja, das war der Weg. Zuversichtlich und mit zunehmendem Tatendrang schritt sie voran. Altes und Neues würde sich harmonisch verbinden. Die Fackel weiter gegeben. Omega. Alpha. Sie hob die Hand vom Sideboard und nahm das gleißende Licht entgegen. Hier war ihr Zuhause. Raum zum Leben. Ihr eigenes Leben. Sie ging zur Tür, trat auf die Terasse und blickte in den Garten. Die Sonne schien.