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Sabine Mense
Fundstücke
Ich stand da, mit meinem leeren Koffer und wartete. Der Zug hatte wieder Verspätung. Aber es war mir gleichgültig, da mich die Gleise weder nach Norden noch nach Süden führen würden. Ich wartete. Auf das Ankommen und das Wegfahren der anderen. Ich versteckte mich im Grau, beobachtete sie und sammelte ihre Blicke oder Gesten. Abends holte ich sie wieder in meinen Träumen hervor. Dann war ich jene, die umarmt und geküsst wurde. Zum Abschied und zur Begrüßung. Wegen mir wurde geweint, weil ich endlich da war oder wieder hinauszog. Wegen mir, nicht wegen der anderen.

Mein Koffer war abends nicht mehr leer, sondern gefüllt mit den Fundstücken des Tages. Gestern packte ich ein sauberes, weißes Taschentuch aus, das ein Mann mit krummem Rücken verlor, einen schrumpeligen Apfel, den ein Kind verschmähte, und ein Stück glitzerndes Papier, das mir vor die Füße wehte. Ein aufgeschnapptes Wort war auch dabei: „Liebste“. Ein Mann sagte es zu einer Frau. Jeden Tag entdecke ich Neues für meinen Koffer. Ich versuchte, mich auf die Stille zwischen den Bahnsteigen zu konzentrieren. Doch es gelang mir heute nicht. Die Lautsprecherdurchsagen und der kalte Wind hielten mich davon ab. Eine humpelnde Bahnhofstaube pickte nach einem Krümel vor meinen Füßen. Einen kurzen Augenblick lang funkelte ihr Fußring im Licht. Als ein Zug einfuhr, flog sie davon und verlor eine Feder. Ich betrachtete sie bewundernd, hob sie auf und legte die Feder in meinen Koffer.

Auf dem Bahnsteig gegenüber schlenderte ein Mann mit offenem Mantel durch die Menge. Die anderen rempelten ihn in ihrer Eile an und schubsten ihn beiseite. Aber er behielt sein träges Tempo bei. Er hatte wirres, lockiges, etwas zu langes Haar. Er trug eine gestreifte, weite Anzughose, ein enges T-Shirt und sein kurzer Schal war nachlässig um seinen Hals gebunden. Er führte einen kleinen, schäbigen Kunstlederkoffer mit sich, der fast so aussah wie meiner. Er schaute weder auf die Fahrplananzeige noch auf die Bahnhofsuhr, sondern setzte sich auf die Bank. Ich wartete darauf, dass er eine Zeitung aus seinem alten Koffer kramte oder nach seinem Handy suchte. Doch nichts dergleichen geschah. Er lehnte sich zurück, lächelte, schlug die Beine übereinander und blickte nach oben. Alles drängte und hastete an ihm vorbei. Aber er schaute lange auf das kleine Stückchen Himmel und genau diesen Blick hob ich auf und verstaute ihn in meinen Koffer. In diesem Augenblick sah der Mann zu mir herüber, als hätte er bemerkt, was ich ihm gestohlen hatte. Verlegen schaute ich weg. Ich suchte nach der humpelnden Taube und entdeckte sie auf dem Bahnsteig gegenüber. Das silberne Gefieder am Hals glänzte in der Sonne. Die Taube näherte sich dem Mann auf der Bank. Doch er bemerkte sie nicht. Er streckte gerade seine Füße

aus und die Taube flatterte erschrocken davon. Als sie sich ihm nach einer Weile wieder näherte, beobachtete er sie. Aus seiner Manteltasche holte er eine zerknitterte Brötchentüte hervor und begann die graue Taube zu füttern. Dann versperrte mir ein einfahrender Zug die Sicht.

Als ich wieder hinüberschauen konnte, saß der Mann noch immer da. Sein Bahnsteig war jetzt fast leer. Die Taube humpelte vor ihm auf und ab und pickte gierig nach den Brötchenkrümeln. Doch dann kam ein Kind angerannt und verscheuchte sie. Die Taube flog kurz auf und verlor eine Feder, die langsam durch die Luft trudelte. Der Mann erhob sich und bückte sich nach ihr. Er setzte sich wieder und hielt die Feder in die Sonne. Das bisschen Silber an der Spitze schimmerte bis zu mir herüber. Fasziniert schaute ich zu dem Mann herüber. Er erwiderte mein Lächeln. Dann nahm er die Feder und steckte sie in seinen alten Koffer. Die Taube flog nun wieder auf meinen Bahnsteig zurück. Sie trippelte eine Weile umher. Dann kam sie in meine Nähe und schaute mich mit schiefem Kopf an und pickte nach einem Papierfetzchen.

Der nächste Zug fuhr ein und ehe er mir wieder die Sicht versperren konnte, sah ich noch einmal zu dem Mann hinüber. Er erwiderte meinen Blick und schickte mir eine Kusshand hinüber. Der Kuss trudelte so leicht und langsam zu mir durch die Luft wie vorhin die Feder der Taube. Als der Kuss mich erreichte, glühte er auf meinem Mund. Erschrocken fuhr ich mit meinem Finger über meine Lippen. Mein Herz wummerte so laut wie der Zug. Es dauerte ewig, bis er endlich wieder abfuhr.

Als er die Sicht auf den gegenüberliegenden Bahnsteig wieder frei gab, war der Mann verschwunden. Auch die humpelnde Taube war fort. Ich schaute nach allen Seiten. Doch ich konnte weder ihn noch die Taube entdecken. Ich eilte die Treppen hinunter. Vielleicht konnte ich den Mann, der mich so beeindruckt hatte, noch in der Bahnhofshalle finden. Unterwegs kam mir aber schon eine Menschenmenge entgegen, die in den nächsten Zug steigen wollte. Ich entschloss mich, doch noch die Treppen des gegenüberliegenden Bahnsteigs hoch zu laufen. Weit hinten, ganz am Ende des Bahnsteigs, entdeckte ich ihn dann. Er beugte sich über etwas und als ich näher kam, sah ich, dass er etwas kleines, Blinkendes in der Hand hielt. Als ich hinter ihn trat, drehte er sich um und lächelte. Er war nicht überrascht. Langsam nahm er meine Hand und legte etwas hinein. Es war ein verlorener silberner Fußring.

Aus Anthologie „Grenzlicht“. Hrsg. Von Alfons Huckebrink und Frank Lingnau. Edition Wasserburg, 2009.
ISBN 978-3-9812570-5-2