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Sabine Mense
Sternstunden mit James Dean
Meine Einsamkeit und der Mond gehen Hand in Hand spazieren. Auf der anderen Seite vom Kosmos ist es viel stiller und manchmal will man einfach nur still sein. Ich zähle meine Schritte, verzähle mich, gehe wieder ein Stück zurück und beginne von vorne. Ich versuche, nicht mitten auf die Pflastersteine zu treten, sondern mit den Schuhen nur die Ober- oder Unterkanten der Gehwegplatten zu berühren. Es ist dunkel, kalt und irgendwo in der Nacht jault ein Hund, der genauso einsam ist wie ich.

Meine Lieblingszahl ist die Vier. Deshalb bestehe ich darauf, immer um vier Uhr meine Medikamente zu bekommen. Die vier ist gelb und warm. Mein Kaugummi kaue ich zweimal auf der linken und zweimal auf der rechten Seite. Immer abwechselnd. Die Neun ist blau. Blau und kalt. Die neunte Treppenstufe überspringe ich immer, denn die Neun bringt kein Glück. Ich habe Angst vor ihr.

Die Stadt lebt ihr eigenes Leben und nur nachts gehöre ich manchmal dazu. Wenn die Gelegenheit günstig ist, gehe ich weg. Aber ich laufe nicht fort. Unterwegs zähle ich die Fenster und Türen. Bei vierzig höre ich auf und schaue mir das Haus mit der Bank vor der Tür genauer an. „Zur Sonne“ steht da. Mir ist kalt. Ich lasse den Mond stehen, drücke die Klinke und betrete einen schummrigen Raum. Nur zwei Menschen und das Ticken der Uhr füllen ihn aus. Ich zähle meine Schritte. Bei acht, also zweimal vier, bleibe ich stehen. Ich versuche, die Gerüche zu nummerieren, die in meine Nase dringen.

James Dean sitzt an einem Tisch und malt Sterne auf seinen Bierdeckel. Er schaut kurz auf. Er sitzt da in einem altmodischen grauen Mantel mit fünf glänzenden schwarzen Knöpfen. Eine erkaltete Zigarette hängt in seinem Mundwinkel. Er runzelt die Stirn, malt, raucht und nippt zwischendurch zwei, drei, viermal an seinem Glas. Ich setze mich zu ihm. Eine Flasche steht auf dem Tisch und ich zähle die Striche des Codes auf dem Etikett. Dann teile ich die Zahlen unter dem Strichcode in Viererblocks ein und addiere sie. Ich jongliere eine Weile mit den Zahlen. Der Wirt bringt mir eine Cola, die ich gar nicht bestellte. James Dean hat noch eine Zigarette in seiner aufgerissenen Packung und drei blaue Sterne auf der linken Hand. Er legt den Kugelschreiber beiseite und schaut mich an. Blaue Augen. Ich zähle die vergessenen Inseln darin. Ich schwebe zeitlos im leeren Weltall und plötzlich muss ich ihm alles erzählen.

Illustration Sternstunden mit James Dean
Illustration: Benno Sökeland

Danach drückt er meine Hand. Während sich die Sterne wieder zurückziehen, ist mir warm. Ich halte ihm meine andere Hand hin und er drückt auch sie. Er schaut mich lange an und wir sagen nichts. Ich will, dass seine Sterne mich überall berühren. Im Herzen besonders. Ich nehme den Kugelschreiber und male einen vierten Stern auf seine Hand. James Dean lächelt. Dann trinkt er den letzten Schluck aus seinem Glas, macht eine Kopfbewegung, als wolle er sich verabschieden, und steht auf. Er legt ein paar Münzen auf den Tresen und geht dann Richtung Tür. Neun Schritte. Die Tür schließt sich. Ich bekomme Angst. Das Blau der Neun umzingelt mich. Ich warte. Der Wirt geht einmal hinaus und kommt drei Wimpernschläge später wieder. Ich zähle das Geld für die Cola und die Kerben auf dem hölzernen Tisch. Ich starre auf die Tür. Als ich es nicht mehr aushalte, frage ich den Wirt, wohin James Dean gegangen ist. Der Mann schaut mich an und lacht: „James Dean? Du meinst den tauben Bernie! Der sitzt draußen auf der Bank und guckt in die Sterne. Ich habe ihm gerade seine Zigaretten gebracht.“ Ich fasse mit meinem Daumen an mein linkes Handgelenk und zähle den Puls. Bei hundertzehn höre ich auf und öffne die Tür. Der Mond und James Dean haben auf mich gewartet.

James Dean zeigt auf einen Stern, den einen, der sonst immer fehlt. Wir gehen Hand in Hand, immer dem Mond nach. Acht Schritte, ein Kuss, acht Schritte, ein Kuss.

Aus Anthologie „Höhenflieger und Bruchpiloten“,
Edition Am Erker 56, Münster, Dezember 2008